Montag, 15. September 2014

Sabrina - Aufbruch

Tiefschwarze Dunkelheit stand im Raum wie eine undurchdringbare Mauer. Zum wievielten Male hatte sie sich jetzt ihr schmerzendes Handgelenk direkt vor die Augen gehalten, um auf das Ziffernblatt ihrer Uhr zu schauen? Die schwach phosphoreszierenden Zeiger standen auf kurz vor zwei. Sabrina fühlte sich völlig zerschlagen und todmüde. Es kam ihr vor, als hätte sie seit Tagen noch keine Minute geschlafen. Der helle Mondschein drang durch das schmutzige, offenbar seit Jahren ungeputzte Butzenfenster dieser staubigen Besenkammer, in der sie heute ihr Nachtlager hatte aufschlagen müssen. Er hatte es befohlen, und sie hatte gehorcht. So wie immer. Sie hatte ihre Bestrafung auch heute demütig angenommen. Auf einer alten Matratze – sie wollte gar nicht wissen, woher sie stammte – hatte sie sich dann, so gut es ging, eingerichtet. Sie versuchte, all die unschönen Gedanken an Wanzen, Kakerlaken oder Ratten zu verscheuchen, die sie da draußen in der Dunkelheit der Kammer vermutete. Sabrina fand keinen Schlaf. 


Die Erinnerungen an die vergangenen Tage und Nächte ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Erinnerungen an die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Und an die Lust, die sie dabei empfunden hatte. Zumindest am Anfang war es so gewesen. Sie wusste auch, dass sie ihre Bestrafung meist verdient hatte. Ja, da hatte sie auch die schmerzhaften Sitzungen auf der Streckbank noch genossen, die Peitschenhiebe, die Fesselspiele und all die anderen Dinge. Unaussprechliche Dinge. Klaglos hatte sie alles erduldet und alles getan, was er verlangt hatte. Sie hatte sich ihm völlig unterworfen. Es stand ihr schließlich nicht zu, sich gegen ihn aufzulehnen. Sie hatte doch nur eine gute Sub sein wollen… Es war noch schwül und stickig in dieser Nacht. Sie spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Sie schwitzte am ganzen Körper und fühlte sich fiebrig. Wenn Schweiß mit den noch nicht verheilten Wunden und den aufgescheuerten Stellen ihrer Haut in Kontakt kam, brannte es wie Feuer. Mit einer Hand zog sie die Decke von ihrem Körper und schleuderte sie mit einem Schwung zur Seite, in die Dunkelheit. Sollten sich doch die Ratten mit ihrer räudigen Kuscheldecke vergnügen.
Bald würde es wieder kühler werden. Nur ein paar Wochen noch, dann war der September vorbei. Was würde dann sein? Was würde er mit ihr noch anstellen? Nein, sie durfte die Entscheidung nicht länger aufschieben. Heute war vielleicht ihre letzte Chance.

Ihre devote Haltung hatte ihn in letzter Zeit zu immer neuen Folterspielen und grausamen Bestrafungen aufgestachelt. Anfangs hatte er sich doch so verständnisvoll gegeben und war auf ihre Bedürfnisse eingegangen. Jetzt war er manchmal wie von Sinnen. Es kam jetzt immer öfter vor, dass er ihr Safeword überhörte oder nicht hören wollte. Manchmal war sie ohnehin nicht mehr imstande, das Abbruchsignal zu geben. Von Kopf bis Fuß gefesselt und mit einem Knebel im Mund ist nicht gut diskutieren. Angst beschlich sie, dass er irgendwann einmal zu weit gehen würde. War er denn nicht schon zu weit gegangen? Wo würde all das enden? Sie fürchtete, dass er, ihr Peiniger, irgendwann auch die letzte Grenze überschreiten würde. Dazu durfte es nicht kommen. Sie war zwar devot, aber wollte letztlich nicht zum hilflosen Opfer eines sadistischen Mörders werden, der ihren geschundenen, vollgekoteten Körper irgendwann auf einer Müllkippe ablud oder im Wald verscharrte. Aus irgendeinem Grund kam ihr eine Bekannte in den Sinn; früher in der Schulzeit waren sie Freundinnen gewesen. Maren war vor einigen Jahren nach einem Discobesuch spurlos verschwunden. Verschollen. Der Fall war bis heute ungeklärt…
Plötzlich befiel sie ein Schaudern. Sie legte eine Hand an ihre schweißnasse Stirn. Es fühlte sich heiß an. Fröstelnd stand sie vorsichtig auf, wobei sie angesichts der Schmerzen im Unterleib ein leichtes Stöhnen unterdrücken musste, und tastete in der Dunkelheit nach ihren Sachen. Sie streifte sich rasch ein weißes T-Shirt und ihre dunklen Shorts über und schlüpfte in die Sandalen. Jetzt nur keinen Lärm. Auch wenn die Gefahr gering war, durfte sie ihn, ihren Herrn, der unten schlief, nicht aufwecken. Bisher hatte er keinen Verdacht geschöpft, dass sie ihn verlassen wollte. Er glaubte, seine Sklavin sicher zu haben, sie gebrochen zu haben. Er hatte gedacht, der Ring, den er ihr geschenkt hatte, würde sie unlösbar an ihn binden, bis er ihrer überdrüssig wäre. Nein, was er ihr antat, war zu hart. Sie hatte immer noch den Willen und die Kraft, selbst zu entscheiden, wem sie dienen wollte. Vorsichtig öffnete sie die Tür und schlich sich hinaus. Auf dem Flur blieb sie stehen und lauschte. Ihre Augen hatten sich bereits gut an die Dunkelheit gewöhnt. Unten schien alles ruhig zu sein. Abgesehen von dem flackernden, aber stummen Fernseher, den er beim Schlafen oft eingeschaltet ließ, war ein kurz vor der ersten Treppenstufe an der Steckdose angeschlossenes schummriges Nachtlicht die einzige Beleuchtung des Hauses. Aus dem Wohnzimmer unten war unregelmäßiges Schnarchen zu hören. Es schien von der Stelle zu kommen, wo das große breite Sofa stand. Nur weg von hier, wiederholte sie in Gedanken immer wieder. Das war der einzige Wunsch, der sie beherrschte. Das war das einzige, was jetzt zählte!

Leise stieg sie die Treppe herunter und… Ein stechender Schmerz durchfuhr plötzlich ihren rechten Fuß, der gegen einen harten spitzen Widerstand gestoßen war. Es hatte hörbar gepoltert, als sie über eines dieser eisernen Folterinstrumente gestolpert war, die hier überall herumlagen. Das grässliche Ding, das aussah wie ein überdimensioniertes Fangeisen, hatte er morgen an ihr ausprobieren wollen, so hatte er es genüsslich angekündigt. Sie konnte förmlich hören, wie ihr Herz pochte. Was, wenn er aufwachte? Sie wusste, dass sich die Frage nicht stellte. Er hatte sie so gut abgerichtet, dass sie jede noch so grausame Züchtigung hinnehmen und sich nicht wehren würde. Sie hielt einen Moment inne, bis sie sich beruhigt hatte und völlig sicher war, dass der Schlafende nicht aufgewacht war. Dann stieg sie so leichtfüßig, wie sie mit ihren lädierten Gliedern noch konnte, die Treppe hinunter, schlich ins Wohnzimmer. An dem ganzen Gerümpel, den Schnapsflaschen, leeren Paketen und Pizzaschachteln vorbeizukommen, glich einem Hindernisparcours. Endlich hatte sie die große Glastür erreicht, die in den Garten führte. Sie war im Gegensatz zur Haustür nie geschlossen, sondern immer einen Spaltbreit offen, da er frische Luft liebte, wie er immer sagte. Nur noch ein Schritt, dann war sie im Garten und konnte zur Straße flüchten. Nur weg von hier. Neu anfangen, alles vergessen.

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Als sie sich durch die Büsche gezwängt hatte, sah sie ihn sofort, den schwarzen Audi, der ein paar Meter versetzt auf der anderen Straßenseite parkte. Im Inneren des Wagens sah man den roten Punkt einer glühenden Zigarette. Er, der Andere, hatte sie also nicht vergessen. Max war gekommen, um sie abzuholen, sie mitzunehmen. Es war eine dieser Zufallsbekanntschaften gewesen, eines dieser zufälligen Aufeinandertreffen, die man niemals vorhersehen kann. Vor einigen Tagen, als sie in der Tankstelle an der Kasse stand, hatte er ihren Ring an der Hand gesehen und ihr in die Augen geblickt. Er hatte es erkannt, er hatte sie erkannt, in ihr Herz geblickt. Nun, es war nicht schwer zu erkennen. Sie war so unglücklich gewesen. Worte waren überflüssig gewesen. Eine verlorene Seele, dachte er vielleicht, die er retten müsse? Oder die hübsche Sklavin, die er nun für sich vereinnahmen wollte? Sie wusste eigentlich fast nichts über ihn. Aber er war jetzt ihr einziger Rettungsanker, denn er hatte schließlich angeboten, sie heute Nacht hier abzuholen. Und er hatte offenbar Wort gehalten.
„Hey, Sabrina. Bist also doch noch rausgekommen.“ Er schien sich ehrlich zu freuen. Seine Stimme klang ruhig und unaufgeregt.
Sie lehnte sich an das halb geöffnete Wagenfenster. „Max, ich freu mich echt, dass du es nicht vergessen hast. Wartest du schon lange?“, fragte sie.
„Macht mir nichts. Steig doch erstmal ein.“ Die Tür auf der rechten Seite war offen. Sie setzte sich auf den schon sichtlich abgewetzten Beifahrersitz.
„Hat er dich denn gehen lassen?“ Ein zweifelnder Unterton lag in seiner Stimme.
„Der schläft seinen Rausch aus. Schnarcht auf dem Sofa wie ein großes Baby.“
„Hmm, Sabrina, er wird sich fragen, wo du bist, wenn er aufwacht.“ Er schien einen Moment nachzudenken und schnippte mit dem Finger etwas Zigarettenasche auf die Straße.
„Na und? Soll er doch.“
„Er wird dich suchen.“
„Kann er mich denn bei dir finden?“
„Hast du deine Papiere dabei?“
Sabrina erstarrte. Verdammt. Daran hatte sie gar nicht gedacht.
„Oh, Shit. Die Papiere hat er doch einkassiert. Ich hab nur das, was ich am Körper trag.“
„Was nicht gerade viel ist“, meinte er mit einem prüfenden, wenn auch anerkennenden Blick auf ihren spärlich bekleideten Körper.
„Er muss sie irgendwo im Wohnzimmer haben. Vielleicht im Wandsafe, wo er auch sein Bargeld bunkert.“
Er drückte die Zigarette aus. Sie konnte sehen, dass der Aschenbecher im Armaturenbrett vor Zigarettenstummeln schon überquoll. „Na gut. Vielleicht auch besser so. Also pass auf, Sabrina. Ich geh rüber und hole deine Papiere. Da kann ich gleich Hallo sagen und mal ein paar Worte mit dem Typen wechseln. Hatte ich sowieso vor. Mach dir keine Sorgen…“
„Und ich? Was soll ich solange machen? Mir ist kalt. Ich will weg von hier.“ Sie hatte nicht viel Lust, allein im Auto zu warten.
„Du bleibst hier und rührst dich nicht, verstanden? Nimm dir eine Decke von der Rückbank. Du darfst auch rauchen. Ich lass dir die Zigaretten da. Aber schmeiß keine Zigarettenstummel raus. Und lass dir ja nicht einfallen, abzuhauen.“ Seine Stimme klang nun etwas schärfer und hatte einen strengeren Unterton. Das gefiel ihr. Er war offenbar doch ein Mann, der wusste, was er wollte. Kein Weichei, sondern einer, der nicht lange fackelte und die Initiative ergriff.
„Bevor du aufgeraucht hast, bin ich wieder da. Dann fahren wir zu mir.“ Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und stieg aus.

Mit einem grauen Sport-Rucksack, den er sich lässig über die Schulter gehängt hatte, ging er ohne sich umzublicken zum Haus hinüber. Er ging an der Haustür vorbei und nahm wie sie zuvor die direkte Abkürzung durch den Garten. Nach einer halben Minute nahm sie durch die Büsche den Lichtschein einer Taschenlampe war. Es polterte. Es klirrte. Dann trat wieder Ruhe ein. Es war jetzt völlig still geworden. Die ganze Straße war menschenleer. Nur einige Autos von Anwohnern parkten ein paar hundert Meter weiter vor ihr. Sabrina hatte nicht auf die Uhr geschaut, aber es musste etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als sie hörte, wie seine ruhigen, festen Schritte wieder auf den Wagen zukamen. War sie eingeschlafen? Auf jeden Fall musste sie kurz gedöst haben. Er lächelte, als er sah, wie sie hochschreckte. Wie ein verschrecktes Reh, so dachte er vielleicht. Seine Jacke hatte er ausgezogen und wohl im Rucksack verstaut, den er wieder lässig über der Schulter trug. Er legte ihn achtlos auf der Rückbank des Wagens ab und stieg ein.
„Ist alles geregelt. Hat leider etwas länger gedauert. War ein ziemlich zäher Knochen“, sagte er, nachdem er wieder im Wagen saß und sich eine neue Zigarette anzündete. Anerkennung schwang in seiner Stimme mit. Er schien auch etwas außer Atem zu sein. Vielleicht rauchte er zu viel.
Ihre Erleichterung war nun deutlich zu hören und förmlich mit den Händen zu greifen: „Und? Du hast meine Sachen? Hat er sie rausgerückt? Wie hat er es aufgenommen?“ Sie wollte es eigentlich nicht wissen. Es war ihr egal. Sie war nicht mehr die Sub des Mannes, der da im Haus wohnte.
„Ist alles geklärt. Er war aber etwas verwirrt, als ich geradezu mit der Tür ins Haus fiel. Hätte er sich nicht träumen lassen… Dachte wohl, es wär irgendein bizarres Spiel.“ Auch wenn sie sein Gesicht nicht sah, konnte sie ahnen, dass er jetzt grinste. „Aber er wird dich künftig in Ruhe lassen. Hat er fest versprochen, bevor ich…“
„Und du glaubst ihm?“, unterbrach sie ihn.
„Absolut. Auch wenn er etwas kopflos war, als ich ging.“ Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht. Er griff hinter sich, nahm den ausgebeulten Rucksack von der Rückbank und legte ihn ihr in den Schoß. Er war recht schwer und wölbte sich nach außen, als ob ein großes, rundliches Objekt…
„Ein kleines Souvenir. Wird dir gefallen.“
Sabrina saß da, zur Salzsäule erstarrt. Entsetzt presste sie die Lippen fest aufeinander und wagte nicht, den Rucksack zu öffnen. In der Luft lag ein metallischer, ekelhaft süßlicher Geruch. Den plötzlich aufkommenden Brechreiz konnte sie nur mit Mühe unterdrücken.
Er ließ den Wagen an. Beim scharfen Anfahren wurde Splitt von den Reifen nach hinten geschleudert. Man konnte auf den ersten Metern hören, wie die kleinen Steinchen gegen den Radkasten prasselten. Am fernen Horizont war bereits die aufziehende Morgendämmerung zu erahnen. Es würde vielleicht noch ein schöner Septembertag werden. Diese letzten sonnigen Tage im Herbst hatte sie immer schon gemocht…