Samstag, 4. Oktober 2014

Erinnerung


Ein lautes Poltern weckte mich. Vielleicht war es auch gar nicht sehr laut, aber je länger es her ist, desto lauter erscheint es mir in meiner Erinnerung. Es klang, als hätte jemand im Hausflur oder auf dem Treppenabsatz einen Sack Kartoffeln fallen gelassen. Im Grunde kein ungewöhnliches Geräusch in diesem hellhörigen Altbau mit Instandhaltungsrückstau, in dem ich im dritten Stock in einer günstigen Zweizimmerwohnung mit hohen Wänden lebte. Das ist nun schon einige Jahre her. Direkt neben mir auf derselben Etage wohnte ein älteres Ehepaar, der Mann schon im Rentenalter, angenehme Nachbarn, die, soweit ich mich erinnere, keinen Lärm machten, sich nie lautstark stritten. Solche Nachbarn sind selten in Berlin.  
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Ich habe einen leichten Schlaf. Bei ungewohnten Geräuschen schrecke ich hoch, was häufig vorkommt, da ich die Schlafzimmertür aus Gewohnheit immer offen stehen lasse. Ich denke heute, dass ich vielleicht geahnt oder befürchtet haben muss, dass an diesem polternden Geräusch etwas nicht stimmte. Es wäre gelogen, zu sagen, dass Ruhestörungen in diesem Haus ungewöhnlich gewesen wären; schon gar nicht konnte man zu dieser Tageszeit auf erholsamen Restschlaf hoffen, aber das Geräusch schien mir etwas zu laut zu sein, eben fast so, als wäre direkt neben meiner Wohnungstür ein großes Gewicht aus geringer Höhe auf den Holzboden der Etage geplumpst.
Ich lag wach und lauschte einen Moment. Nichts. Es blieb still. Ich drehte mich um und schlief wieder ein.


Später stand ich geduscht in der Küche und hörte wie immer dem letzten Röcheln der dampfenden Kaffeemaschine zu. Langsam breitete sich der aromatische Duft frischen Kaffees in der Wohnung aus. Jetzt nur mal schnell zum Briefkasten runter und die Post holen, dann frühstücken und an die Arbeit...
Direkt vor meiner Tür stoße ich auf einen regungslosen Körper. Lang dahingestreckt liegt er vor meinem Fußabtreter, grünweißer Schleim sickert aus dem Mundwinkel, die Augen sind starr ins Leere gerichtet. Ich muss mich zwingen, nicht zu kotzen. Noch Tage später packt mich immer wieder Brechreiz, wenn ich an den Anblick denke. Kein Puls; ich versuche noch eine Herzdruckmassage, aber zwecklos. Mein Nachbar, der ältere Mann, Herr G., tot.
Einige Male war ich ihm auf der Treppe begegnet, als er morgens nach der Post geschaut hatte. Ein freundlicher Mann, er hustete stark, das Treppensteigen bereitete ihm sichtlich Probleme. Als ich ihm einmal sein Schlüsselbund zurückbrachte, das er unten am Briefkasten vergessen hatte, bedankte er sich überschwenglich. Ein Schwall von kaltem Tabakrauch drang damals aus der Wohnung, als er öffnete… 
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„Hat keinen Sinn; der ist schon ganz blau“, sagte der von mir gerufene Rettungssanitäter oder Notarzt und packte seine Utensilien wieder ein. „Die Polizei kommt dann sicher noch kurz bei Ihnen vorbei, um Sie zu befragen. Wissen Sie, wie wir die Angehörigen verständigen können?“ Ich wusste es nicht. Die Frau war tagsüber wohl nicht zu Hause… 
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Ich traf sie erst Tage später im Hausflur. Bis zu diesem Tag hatte ich versucht, ihr auszuweichen, sie nicht treffen… Wenn es klingelte, reagierte ich nicht. Sie versuchte, sich bei mir für die Ersthilfe bedanken und brach natürlich immer wieder in Tränen aus... Ich hasse Tränen. Und wofür bedanken? Ich habe den Tod ihres Mannes verschlafen.

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